By - - Kommentare deaktiviert für Hype um «Hygge»: Was steckt hinter dem Wohlfühtrend?

Kopenhagen – Es ist in einem kleinen Land nördlich von Deutschland entstanden und hat sich von dort aus auf Eroberungstour durch die halbe Welt gemacht. Alle wollen plötzlich das dänische Lebensgefühl «Hygge» spüren.

In Großbritannien und den USA hat das Phänomen aus heiterem Himmel einen Hype ausgelöst. Zusammensein, Gemütlichkeit, die einfachen Freuden des Lebens – wenn das Wetter draußen schlecht ist und auf der Welt Konflikte schwelen, lockt das dänische Glücksrezept umso verführerischer. Aber Vorsicht: Die «Hygge» hat auch Schattenseiten, warnt ein Experte.

«Skandinavien hat einen Ruf als glücklicher Teil der Welt», sagt der Hygge-Forscher Jeppe Trolle Linnet. «Und so hat man es geschafft, Hygge als eine Zutat zum skandinavischen Glück zu vermarkten.» Auch in deutschen Bücherläden wimmelt es vor Literatur zu dem Wohlfühltrend. Die Bücher tragen Titel wie «Hygge – ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht» oder «Hygg Hygg Hurra!: Glücklich wie die Dänen». Wer es sich zuhause so gemütlich und zugleich stylisch machen will wie die Trendsetter aus dem Norden, liest «Hyggelig Wohnen: Inspirationen aus Skandinavien».

Was genau steckt hinter dem dänischen Exportschlager? «Hygge», das ist für jeden etwas anderes. Ein Fahrradausflug an einem Frühlingstag. Frischer Kaffee mit Zimtschnecken. Ein ausgelassenes Fest. Ein Grillabend mit Freunden. An einem Sommertag aufs Wasser gucken. Im Winter ist «Hygge» ein Sonntag auf dem Sofa, mit einer Wolldecke über den Beinen, einem Buch in der Hand und Kerzen auf der Fensterbank. «Alle Momente, in denen ich mich maximal entspanne», sagt ein Däne. «Hygge» kann auch ein Horrorfilm sein oder ein Rockkonzert.

Ende vergangenen Jahres hat «Hygge» es sogar in den dänischen Wertekanon «Danmarkskanon» geschafft, mit dem das Land seine kulturelle DNA definieren wollte. «Im Großen und Ganzen ist «Hygge» Ausdruck für die einfachen Freuden des Daseins», heißt es darin.

Der dänische Wohlfahrtsstaat gibt seinen Bürgern seit Jahrzehnten ausreichend Gelegenheit zur «Hygge». Gearbeitet wird vorrangig, um für sich und andere sorgen zu können, wichtiger sind Partner und Nachwuchs daheim und das soziale Beisammensein. Darauf nehmen Arbeitgeber Rücksicht. «Sich auf die Dinge im Dasein zu konzentrieren, die unverzichtbar sind, anstatt nur nach Karriere und Prestige zu jagen, gehören zum Geheimnis», sagt Jeppe Trolle Linnet. «Es war immer ein Merkmal des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, dass man das hier etwas mehr tun kann, und das liegt im Hygge-Begriff.»

Dass die Dänen in Glücksstatistiken stets weit oben landen, hat nach Jeppe Trolle Linnet deshalb mehr damit zu tun, dass viele Menschen hier zufrieden mit dem sind, was sie haben. Die Grundbedürfnisse sind gedeckt, das Gefühl von Vertrauen und sozialer Gerechtigkeit ist groß. «Man kann sich natürlich fragen, ob diese Statistiken stimmen», sagt der Forscher. «Aber das ist eine andere Geschichte.»

In ihrem Buch «111 Gründe, Dänemark zu lieben» führt die deutsche Auswanderin Maritta Demuth das Phänomen als 33. Grund an. «Dänemark in einem Wort», schreibt sie, und stellt dann fest: Auf Deutsch lässt sich «Hygge» nicht in einem Wort übersetzen – auch wenn viele es mit «Gemütlichkeit» probieren. In der Alltagssprache ist das Phänomen in unterschiedlichen Formen allgegenwärtig: Die Dänen kennen nicht nur die «Hygge», sie können sich auch «hyggen» und etwas kann «hyggelig» sein (so ziemlich alles Positive). «Hyg jer!» ruft eine Mutter ihrer Tochter, die auf dem Weg zu Freunden ist, noch schnell beim Verlassen des Hauses zu. «Hyggt euch!»

In einer Zeit, in der wirtschaftliche Unsicherheit und politische Konflikte schwelen, finden wir «Hygge» besonders attraktiv, sagt der Kopenhagener Forscher Jeppe Trolle Linnet. «Hygge kann dazu führen, dass man sich nach innen kehrt und von der Welt abwendet, weil diese komplex und bedrohlich ist», sagt er. «In der Hygge kann eine Wirklichkeitsflucht mitschwingen.» À la: Die Welt ist kalt und böse, aber wir sitzen drinnen und trinken warmen Kakao.

In der Intimität der «Hygge» wird das Fremde schnell zur Bedrohung. Darunter können Vielfalt und Toleranz in so einem kleinen Land wie Dänemark leiden, erläutert der «Hygge»-Experte. «Das Problem mit Hygge ist, dass sie ausgrenzend sein kann, und sie kann auch konfliktscheu und kleinbürgerlich sein.» Seit vielen Jahren gewinnen Parteien mit dem Ruf nach einer strengeren Ausländerpolitik in Dänemark Wahlen. Wenn unser Wohlfahrtssystem überleben soll, sagen die Rechtspopulisten, müssen wir unsere Grenzen dichtmachen.

Trotz mancher Schattenseiten kann doch kaum jemand der Anziehungskraft der «Hygge» widerstehen. Denn wer sehnt sich nicht nach Geborgenheit, frischgebackenem Kuchen und mehr Zeit mit Freunden? In Dänemark wundern sich manche, dass ihr Lebensgefühl im Ausland so einen Hype erlebt. «Die Dänen kennen die Hygge ja schon seit vielen Jahren», sagt Jeppe Trolle Linnet. Dass das kleine Volk Weltmeister im Hyggen ist, hat laut «Danmarkskanon» auch einen ziemlich offensichtlichen Grund: «Die Bedeutung der Hygge in Dänemark hängt wohl auch mit dem dänischen Wetter zusammen, wo kalte, dunkle und nasse Monate zum Zusammensein drinnen einladen.»

Literatur:

Maritta G. Demuth: 111 Gründe, Dänemark zu lieben: Eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 320 Seiten, 12,99 Euro, ISBN-13: 978-3862656127

Fotocredits: Daniel Reinhardt
(dpa)

(dpa)