Venedig – Menschenmassen schieben sich über den Markusplatz, über die Brücken und durch die Gassen von Venedig. An die zehn Millionen Gäste beherbergt die italienische Stadt pro Jahr in Hotels und Pensionen. Dazu kommen laut Kommune 14 Millionen Tagesgäste – bei 260 000 Einwohnern.
Die einmalige Kulisse, das besondere Licht, die Romantik – das zieht Touristenmassen an. Hinzu kommt Glamour durch Filme und Promihochzeiten – etwa von Hollywoodstar George Clooney und Amal. Oder erst im Juli von Fußball-Nationalspieler Bastian Schweinsteiger und Tennisspielerin Ana Ivanovic.
Die Bilder der glücklichen Paare mit wehenden Haare gingen um die Welt – aber so luftig ist es längst nicht überall in der Lagunenstadt. Das Gedränge und auch das Verhalten der Besucher gehen den Venezianern zunehmend auf die Nerven. Flugblätter mit der Aufforderung «tourists go away!!! you are destroying this area!» (Touristen geht weg, ihr macht diesen Ort kaputt) klebten in diesen Tagen gerade wieder an Wänden nahe der Kirche San Giovanni in Bragora, berichtete der «Corriere del Veneto».
Dem Vernehmen nach soll einem erbosten Geschäftsmann der Kragen geplatzt sein. Gerade in der Woche vor dem Feiertag Ferragosto (15. August) erlebte Venedig ein Fiasko. Die Brücke der Freiheit, einzige Auto-Verbindung vom Festland, musste geschlossen werden. Das ungewöhnlich schlechte Wetter mit schlimmen Regengüssen mitten in der Urlaubssaison hatte Strandurlauber animiert, sich eine Alternative zu suchen – auch Einheimische blieben in den Touristenströmen stecken.
«Das sind einzelne Fälle», kommentiert Wirtschaftsprofessor Jan van der Borg von der Universität Ca’Foscari in Venedig das böse Flugblatt. Allerdings steigen die Besucherzahlen in Venedig stetig: binnen 10 Jahren um rund 25 Prozent, zuletzt um gut 2 Prozent. «Es geht mehr darum, die Interessen von Einheimischen und Touristen unter einen Hut zu bringen», sagt die Tourismusreferentin Paola Mar. «Das Problem haben aber auch andere Städte.»
Allerdings ist die Lagunenstadt mit ihrer sensiblen Bausubstanz ein besonderer Fall. Die für Kreuzfahrtschiffe nötige Vertiefung von Fahrrinnen sowie deren Wellenschlag bedrohen die Fundamente der Gebäude. Die Unesco drohte wegen der Kreuzfahrtschiffe inzwischen mit dem Entzug des Welterbetitels. Gerade deren Passagiere sind nicht besonders beliebt. «Venedig hat nichts von ihnen, wenn sie nur einen Tag kommen und einmal über den Markusplatz laufen», sagt van der Borg.
«Die Zahl der Touristen ist zu hoch – und es fehlt an Qualität», sagt van der Borg. Wer sich ernsthaft für Venedig interessiere und nicht nur mal eben einen Abstecher vom Strandurlaub mache, sei auch zu entsprechender Planung bereit. «Wir brauchen Reservierungssysteme.» Zudem müsse es Anreize für die Wintermonate geben, um Besucher besser auf das Jahr zu verteilen.
Im vergangenen Jahr sprach auch der frisch gewählte Bürgermeister Luigi Brugnaro darüber, möglicherweise den Zugang zu Attraktionen wie dem Markusplatz zu beschränken, etwa indem Tagestouristen im Voraus buchen müssten. Auch Tickets für den Zutritt zu der Stadt waren immer wieder im Gespräch – und umstritten. «Man muss auch an die jungen Leute denken, die nicht so viel Geld haben», sagt van der Borg. Auch rechtlich wäre eine solche Beschränkung vermutlich gar nicht so einfach umsetzbar. Immerhin gibt es für Einheimische seit Juni eigene Zugänge für die Wasserbusse, die Vaporetti. Damit müssen die Einheimischen nicht mehr mit den Touristen Schlange stehen.
Unbekannte Venezianer ließen die Urlauber kürzlich auch wissen, was sich gehört. An den Mülltonnen wurde laut «Corriere del Veneto» ein weiteres Plakat gefunden: ein Schwein im Badeanzug, das Abfall auf den Boden wirft, mit der Aufschrift «Stop» und «Ich bin nicht willkommen in Venedig», ebenfalls auf Englisch. Mancher bade einfach in den Kanälen, oder ziehe sich aus und laufe im Badeanzug herum, als sei Venedig ein Badeort, sagt van der Borg. Andere biwakierten nachts auf dem Markusplatz. Wieder andere kommen laut Tourismusreferentin Mar mit dem Rad. «Sie verstehen einfach nicht, dass man in Venedig mit den vielen Brücken und Gassen nicht Radfahren kann.»
Doch selbst ohne solche Zwischenfälle geht es gerade in der Hauptsaison oft chaotisch zu: Menschenmassen drängen sich durch Gassen, schieben sich über die Brücken und quetschen sich auf Boote. Auf dem Canal Grande beschimpfen sich die Fahrer von Wassertaxen, -bussen, Privatbooten und Gondeln, die sich gegenseitig behindern. Und die Touristen? Die staunen über die einmalige Kulisse und ducken sich erschrocken, wenn der Nachbar auf dem Wassertaxi mal wieder mit dem Selfie Stick fuchtelt.
Fotocredits: Jens Kalaene,Andrea Merola,Alvise Armellini
(dpa)
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